Die Zeit vor dem Schlafengehen ist einer der kostbaren Momente, den wir mit unseren Kindern teilen dürfen.
Kigunage, 2012
Tatkräftig und mit etwas Glück auf ihrer Seite konnte die Mannschaft der Seeschwalbe die unerwartete Begegnung mit den Eisbergen meistern, ohne Schaden zu nehmen. Danach setzten sie ihre Reise ungehindert fort. Ein günstiger Wind füllte ihre Segel und sie kamen ihrem Ziel Madagaskar und dem ersehnten Schatz zügig näher. Das Segeln machte allen Spaß und sie genossen jeden neuen Tag. Abends saßen sie nahezu immer zusammen an Deck und schilderten ausführlich ihre bisherigen, fesselnden Abenteuer auf See. Hinkebein spielte dann auf seiner Mundharmonika und Käpt’n Silberbart sang am lautesten von allen und leider meist auch am schrägsten. Obwohl sie erst seit kurzer Zeit zusammen segelten, waren sie bereits gute Freunde geworden.
Nach mehreren schönen Tagen passierten sie die Azoren und stießen tief in den Atlantischen Ozean vor.
Käpt’n Silberbart verkündete begeistert: „Wenn das so reibungslos weitergeht, erreichen wir unser Ziel schon in zwei Wochen.“
Doch wie ein Sprichwort sagt, soll man den Tag nicht vor dem Abend loben. Schon am nächsten Tag ließ der Wind etwas nach. Nun wurde er von Tag zu Tag schwächer, bis er schließlich ganz aufhörte zu blasen. Zuerst waren die Männer noch entspannt und guten Mutes, denn Flauten kannte jeder Seemann.
„Morgen weht wieder eine steife Brise“, zeigten sie sich alle zuversichtlich. Doch die Flaute hielt leider an, und das mittlerweile schon seit einer ganzen Woche. Wie gut, dass sie aufgrund ihrer Begegnung mit den Eisbergen genügend frisches Trinkwasser an Bord hatten!
Obwohl das Schiff von den Wellen nur hin und her geschaukelt wurde, kletterte Einauge jeden Tag in den Ausguck. Er hoffte, irgendetwas zu entdecken; eine Insel vielleicht oder eine Wetterveränderung.
Völlig unvermutet kam der befreiende Ausruf: „Land! Käpt’n Silberbart, Land in Sicht!“
Alle stürmten an Deck.
„Wo, wo hast du Land entdeckt?“
„Dort drüben am Horizont ist eine kleine Insel! Seht ihr?“
Natürlich konnte außer Einauge keiner etwas erkennen. Der Käpt’n nahm sein Fernrohr. Nach einer Weile brummelte er in seinen silbergrauen Bart:
„Das ist aber komisch. Es sieht aus, als tauche sie auf und ab und gerade habe ich in der Mitte so etwas wie einen Wasserstrahl gesehen.“
„Jetzt kann ich es erst richtig erkennen. Das ist leider keine Insel. Es ist ein Wal, ein riesiger Blauwal“, meldete Einauge niedergeschlagen.
Wieder war es Hinkebein, der seine Freunde mit einem wirklich sehr ungewöhnlichen und scheinbar nicht durchführbaren Einfall überraschte.
„Vielleicht ist der Wal sogar nützlich und kann uns aus der Patsche helfen. Er ist bestimmt stark genug, um die Seeschwalbe zu ziehen. Schwierig wird es allerdings, ihn hierher zu locken, damit wir ein Tau an ihm befestigen können.“
Lulatsch hielt das für völlig unmöglich. „Wie soll so etwas gelingen? Unser kleines Schiff interessiert den Wal doch überhaupt nicht.“
Käpt’n Silberbart hingegen baute stets auf Hinkebeins Ideen und überlegte sich bereits, wie man das Tier ködern könnte.
„Ihr müsst mal genau hinsehen. Der Wal ist schon viel näher gekommen. Vielleicht können wir ihn mit etwas Fisch noch weiter anlocken, auch wenn das möglicherweise nicht seine Lieblingsspeise ist. Es sollte uns einen Versuch wert sein, denn ohne etwas zu tun, sitzen wir auf jeden Fall weiter hier fest.“
Ohne Wind konnten sie mit ihrem Schiff nicht einfach näher an den Wal heransegeln. Sie mussten den perfekten Zeitpunkt abwarten. Dann, wenn der Wal dem Schiff so nahe wie möglich gekommen war, und bevor er sich wieder weiter entfernen würde.
Käpt’n Silberbart beobachtete ihn sehr genau und schließlich gab er den Befehl:
„Jetzt, Klops. Nimm ein Fass mit Fischen und schütte es vorsichtig über Bord. Es soll aussehen wie ein kleiner Fischschwarm.“
Für Klops war es kein Problem, das schwere Fass ganz vorsichtig und langsam an der Seite des Schiffes zu entleeren. Die Fische trieben an der Wasseroberfläche, und da kein Wind und keine Wellen sie auseinander trieben, konnte man sie tatsächlich mit einem kleinen Fischschwarm verwechseln. Alle warteten gespannt, ob der Wal auf den Köder reagieren würde. Zunächst schwamm er unbeirrt weiter, dann änderte er aber plötzlich seinen Kurs und kam auf das Schiff zu.
„Schnell Lulatsch, nimm das große Tau und knote eine Schlinge. Das andere Ende des Taus befestigst du am Bug. Sobald der Wal sein Maul öffnet, um die Fische zu verschlucken, legst du ihm die Schlinge um seinen Oberkiefer. Beeile dich! Du musst fertig sein, bevor der Wal das Schiff erreicht“, wies Käpt’n Silberbart Lulatsch an.
Flink und geschickt machte Lulatsch sich an die Arbeit. Dank seiner langen Arme und Beine konnte er sich weit über den Seitenrand des Schiffes hinauslehnen, und tatsächlich gelang es ihm, die Schlinge am Kiefer des Wales zu befestigen. Der erste Teil von Hinkebeins Plan war geglückt, aber würde der Rest auch noch klappen?
Jetzt, da der Wal so nahe am Schiff schwamm, wurde den Männern erst bewusst, wie riesig groß er im Vergleich zur Seeschwalbe war. Nach der kleinen Mahlzeit schwamm er weiter, ohne sich im Geringsten für das Schiff zu interessieren. Die Schlinge um seinen Oberkiefer zog sich fest und das Tau begann sich zu spannen. Die Männer warteten nervös auf die Reaktion des Wals, wenn er plötzlich das Gewicht des Schiffes spüren würde. Sollte er verschreckt abtauchen, konnte er sie leicht alle in die Tiefe ziehen. Zur Sicherheit hielt Klops eine breite Axt in den Händen. Damit würde er schnell das Tau durchtrennen, falls der Wal anfing zu tauchen.
Glücklicherweise hatte der Wal überhaupt keine Lust zu tauchen. Das Tau spannte sich und er begann, das Schiff zu ziehen. Große Mühe schien ihm das nicht zu bereiten und jetzt bestimmte er den Kurs des Schiffes. Nach den vielen Tagen des Stillstandes ging es endlich wieder voran - wenn auch langsam.
Nachdem der Wal das Schiff bereits einen ganzen Tag gezogen hatte, bemerkten alle, dass er mittlerweile sehr müde geworden war.
„Ich denke wir sollten den Wal befreien. Schließlich wollen wir ihm nicht schaden. Wenn er so müde ist, kann er uns sowieso nicht mehr lange ziehen“, sprach Hinkebein aus, was alle dachten.
Mit ihrem letzten Fass Fische lockten sie den Wal erneut zum Schiff. Lulatsch befreite ihn von der Schlinge und etwas betrübt beobachteten sie, wie er davonschwamm. Gerettet waren sie nicht - obwohl Hinkebeins Idee tatsächlich funktioniert hatte.
Gerade jedoch als der Wal am Horizont verschwand, wehte den Männern schlagartig ein leichter Wind um die Nase. Es war wie verhext. Nur eine kleine Brise zunächst - aber bald schon wurde der Wind stärker und sie konnten die Segel hissen.
„Jetzt schaffen wir es doch! Juhu!“, jubelten sie glücklich.
Nur einen Tag später erreichte die Seeschwalbe die Kapverdischen Inseln. Sehr hungrig gingen sie im Hafen Porto Grande an Land. Nach einem guten Essen stand dem nächsten Abenteuer nichts mehr im Wege.