Die Zeit vor dem Schlafengehen ist einer der kostbaren Momente, den wir mit unseren Kindern teilen dürfen.
Kigunage, 2012
Am nächsten Morgen kamen Klops, Lulatsch und Einauge schon ganz früh an Bord der Seeschwalbe. Bevor sie in See stechen konnten, mussten noch all die Dinge, die Käpt’n Silberbart für ihr Abenteuer besorgt hatte, aufs Schiff gebracht werden. Klops, der gutes Essen mochte und gerne kochte, achtete natürlich besonders darauf, dass genügend Proviant eingeladen wurde. Wie am Tag zuvor fiel es ihm nicht schwer, mehrere Fässer gleichzeitig an Deck zu tragen und so kamen sie recht zügig voran. Lulatsch schaffte immer nur ein Fass, dafür war er mit seinen langen Beinen so schnell, dass er letztlich fast so viele bewältigte wie Klops. Einauge arbeitete hart, und obwohl er, was Kraft und Schnelligkeit betraf, nicht unbedingt mit den anderen mithalten konnte, trug er genau wie Hinkebein und Käpt’n Silberbart seinen Teil dazu bei, dass das Schiff nach zwei Stunden harter Arbeit beladen und die Ladung mit dicken Tauen festgebunden war. So konnte später bei einem Sturm nichts verloren gehen. Alles an Bord bekam seinen festen Platz, denn Ordnung ist auf hoher See enorm wichtig.
Gut gelaunt stand Käpt’n Silberbart auf der Brücke und gab seine Befehle.
„Los geht’s! Einauge, du gehörst in den Ausguck, Klops und Lulatsch in die Takelage, und hisst die Segel! Seemann Hinkebein, du kennst ja deinen Platz am Steuerrad. Kurs auf Madagaskar!“
Dank des guten Windes verschwand die Küste Englands rasch am Horizont. Das Wetter war perfekt für ihre Reise und die Fahrt verlief reibungslos. Besonders Käpt’n Silberbart genoss es, wieder an Bord eines Schiffes zu sein. Bester Laune ließen sich alle den frischen Seewind um die Nase wehen.
Dann, am dritten Tag, passierte etwas völlig Unerwartetes. Einauge schlug plötzlich ganz aufgeregt aus dem Ausguck Alarm:
„Käpt’n, Eisberge in Sicht!“
„Zu dieser Jahreszeit gibt es hier normalerweise keine Eisberge mehr. Bist du sicher Einauge, dass es wirklich Eisberge sind? Wie viele siehst du?“
Einauge fing an zu zählen: „Eins, zwei, drei, vier, …zehn...! Das ist eine ganze Wand aus Eisbergen, Käpt’n, und ich kann keine Lücke entdecken, durch die wir hindurchsegeln könnten.“
„Oh nein! Das ist wirklich sehr gefährlich! Wir können die Seeschwalbe nicht einfach wenden und umkehren. Der Wind treibt uns genau auf die Eisberge zu“, stellte Hinkebein bestürzt fest.
„Lulatsch, Klops schnell refft die Segel. Wir müssen unbedingt langsamer werden!“, befahl der Käpt’n.
Als Silberbart noch überlegte, was als Nächstes zu tun sei, platzte Hinkebein heraus:
„Käpt’n, ich bin mir zwar nicht sicher ob es funktioniert, aber ich habe da eine Idee.“
„Na los, sag schon, was dir eingefallen ist. Schnell, viel Zeit haben wir nicht mehr!“
„Wir könnten versuchen, uns mit der Kanone den Weg durch die Eisberge freizuschießen.“
Von ihren früheren Abenteuern wusste Käpt’n Silberbart, dass Hinkebeins Vorschläge fast immer funktionierten. Er selbst hatte in diesem Moment keine bessere Idee und so befahl er Klops, die größten Kanonenkugeln an Deck zu bringen. Sofort führte Klops diesen Auftrag aus. In solch einem Tempo sah man ihn normalerweise nicht laufen. In persönlicher Bestzeit brachte er so viele Kanonenkugeln an Deck, wie er auf einmal tragen konnte. Glücklicherweise vergaß er, trotz der für ihn ungewöhnlichen Geschwindigkeit, das Pulverfass nicht. Lulatsch richtete währenddessen die Kanone am Bug der Seeschwalbe aus und machte sie anschließend gemeinsam mit Klops feuerbereit.
Umgehend zielten sie auf einen der Eisberge und sogleich ertönte das Kommando ihres Kapitäns: „Feuer!“
Mit einem lauten Knall flog das Geschoss los, und obwohl es tadellos traf, trug der weiße Riese kaum einen Kratzer davon.
„Ein Treffer reicht nicht. Noch mal nachladen, schnell!“, ertönte Silberbarts Stimme. In Windeseile füllte Lulatsch das Pulver in den Lauf und Klops schob die nächste Kugel hinterher. Lulatsch zielte jetzt etwas tiefer. Bums! Treffer! Tatsächlich wurde diesmal ein kleiner Keil in den Eisberg gerissen.
„Die Eisberge kommen immer näher. Viele Versuche haben wir nicht mehr“, schrie Einauge ihnen aufgeregt und sehr nervös aus dem Ausguck zu.
„Lulatsch, wenn wir noch eine Chance haben wollen, musst du die gleiche Stelle am Eisberg noch einmal treffen!“
Schleunigst wurde nachgeladen. Lulatsch peilte den bereits entstandenen Spalt äußerst sorgfältig an. Der Käpt’n gab den Feuerbefehl und die Ladung ging los.
Nein! So ein Pech! Ganz knapp verfehlte die Kugel das anvisierte Ziel und traf den Eisberg ein kurzes Stück unterhalb der ersten Vertiefung. Ein weiterer Einschnitt zierte jetzt den Eiskoloss, aber großen Schaden erlitt er nicht.
„So ein Mist“, fluchte Lulatsch.
„Jetzt wird es wirklich knapp“, stellte Hinkebein sorgenvoll fest, „wir haben nur noch einen Versuch, bevor unser Schiff mit einem der Eisberge zusammenkracht. Einauge komm runter, du musst Lulatsch helfen, haargenau zu zielen.“
Schnell war die Kanone erneut bereit. Einauge fasste das Ziel ins Auge und auf Befehl des Käpt’ns wurde das Pulver gezündet. Peng! Das Geschoss war abermals unterwegs. Angespannt und - selbst wenn sie als echte Seemänner das nie zugeben würden - etwas ängstlich verfolgte die Mannschaft den Flug.
An ihren verkrampften Gesichtern konnte man ablesen, dass sie die Kanonenkugel am liebsten selbst ins Ziel getragen hätten.
Der Einschlag war gewaltig, was vielleicht auch daran lag, dass eine Kollision ihres Schiffes mit einem der Eisberge unmittelbar bevorstand. Egal, die Kugel traf das anvisierte Ziel und alle jubelten, doch dann… passierte nichts!
Sollte ihre Schatzsuche wirklich so schnell zu Ende sein? Würde die Seeschwalbe bald schon auf dem Grund des Meeres liegen, anstatt nach Madagaskar zu segeln?
Mutlos ließen die Männer die Köpfe hängen und merkten zunächst gar nicht, dass das Eis langsam zu reißen anfing. Ähnlich einem Donnerschlag fiel der ganze Eisberg mit riesig lautem Getöse in sich zusammen. Hinkebein reagierte umgehend und steuerte das Schiff behände in die entstandene Lücke. Die kleineren Eisbrocken, die vor ihnen im Meer schwammen, knallten gegen den Bug, aber das machte einem stabilen Schiff wie der Seeschwalbe nichts aus. Sie passten gerade so durch die Öffnung zwischen den Eisbergen hindurch, und erst als die Gefahr überstanden war, trauten sich die Männer aufzuatmen. Nur durch ihre gemeinsame Anstrengung waren sie der Gefahr entkommen.
Klops, der immer an den Proviant dachte, fischte eilig noch so viele Eisstücke aus dem Meer, wie er erwischen konnte.
„Damit können wir prima unsere Trinkwasservorräte auffrischen und dann hat unser Treffen mit den Eisbergen wenigstens noch etwas Gutes.“
Alle lachten und halfen Klops die Eisstücke in leeren Fässern unterzubringen.
Erleichtert und glücklich darüber, ihr erstes Abenteuer heil überstanden zu haben, setzten sie ihre Reise nach Madagaskar fort.